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"Das innere Hören"

Welch ein Geschenk war es, mit ihm zu musizieren!

Claudio Abbado saß ich zum ersten Mal beim Abendessen nach seinem Konzert beim Luzern Festival gegenüber. Zunächst sprach er sehr wenig, doch dann redeten wir über Musik, Sardinien und übers Segeln. Claudio Abbado war ein leidenschaftlicher Segler! Der Intendant des Festivals, Michael Haefliger, erzählte ihm im Laufe des Abends, dass ich Pianistin sei. Ich hatte großes Glück - Claudio Abbado hörte sich kurz darauf eine Live Aufzeichnung des Mozart C-Dur Konzertes KV 467 an, welches ich zuvor in München gespielt hatte. Offenbar überzeugte ihn meine Interpretation...

Mehrmals lud Claudio Abbado meinen Mann und mich nach Sardinien in sein Haus ein. Ein außergewöhnliches  Haus! Es schien mehr unter der Erde zu sein: Über ein stegähnliches System gelangte man auf dem Dach von einem Zimmer zum anderen. Dieses beeindruckende Bauwerk ergänzte sich auf wundervolle Weise mit der üppigen Vegetation - mit seltenen Pflanzen und Königspalmen. Die gesamte Anlage erschien wie unberührte Natur. Ein zauberhafter Platz der Stille. Claudio Abbado hatte dieselbe Leidenschaft für diesen Ort wie für die Musik! Dies drückte sich auch in der schlichten, sympathischen Art der Einrichtung aus. Alles war hier konzentriert auf das Wesentliche: Auf einem holzgeschnitzten, alten Notenständer lag eine kostbare Partitur des Fidelio.

Nein, Claudio Abbado wollte nicht mit Maestro angesprochen werden, sondern mit Claudio! So war seine Einstellung auch allen gegenüber, die mit ihm musizierten. Das Wichtigste für ihn war stets: "Die Magie der Musik mit guten Freunden teilen". Sehr gerne arbeitete er mit jungen, hochbegabten Musikern, beispielsweise mit dem Mahler Chamber Orchestra, welches er ins Leben gerufen hatte.

Unser erstes gemeinsames Konzert mit dem 2. Klavierkonzert von Beethoven war im Teatro Real in Madrid. Bei der ersten Probe arbeitete er mit mir alleine. Er schien erfüllt zu sein vom" inneren Hören" der Musik.

Auch der schöne Klavierklang war ihm ein besonderes Anliegen, war er doch selbst auch Pianist gewesen! Fast ein wenig schelmisch verriet er mir einen Fingersatz seines Freundes Friedrich Gulda, den er sehr bewunderte. Alle Töne mussten klingen, kurze Staccato Noten mochte er nicht. "Warum hebst Du Deine Hand - der Akkord ist noch nicht verklungen?" meinte er im 2. Satz fast vorwurfsvoll. Erinnerungen aus meiner Kindheit wurden wach. Meine erste Lehrerin, Anna Stadler, unterrichtete nach dem "inneren Hören" von Beata Ziegler: "Der ideale Klavierton sollte singen, einem weichen Glockenton ähnlich sein, zuerst innerlich gehört werden und dann bis zur letzten rhythmischen Welle ausschwingen können". Ich wurde von Claudio Abbado dabei ertappt, dies nicht immer konsequent zu tun.

Er hatte ganz präzise Vorstellungen von Tempi (z.B. musste ein "con brio"unbedingt eingehalten werden!), von Dynamik, Pedal und  von Verzierungen - man hatte eigentlich keine andere Wahl. Claudio Abbado klang so überzeugend! Als ich eine Stelle mehrmals wiederholte und ihn fragte, ob ich sie noch einmal spielen dürfte, meinte er "aber natürlich gerne, noch ein paar Mal - die Musik von Beethoven ist so großartig!"

Bei der ersten Orchesterprobe, als ich die linke Hand einmal etwas zu laut spielte, ermahnte er mich unmissverständlich, ich solle auf die Oboe hören. Es war absolute Voraussetzung für jeden einzelnen im  Orchester, alle anderen bewusst zu hören. Dieses aufeinander Hören hatte eine so hohe Qualität wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Später einmal hat Claudio Abbado mir übrigens erzählt, dass er eine Veränderung seines Hörvermögens nach seiner Magenoperation bemerkt habe. Er konnte leicht vier bis fünf Stimmen gleichzeitig und gleichwertig hören - für mich nicht vorstellbar! Die Magie der Musik, die er vermitteln konnte, und die Freude, die er ausstrahlte - trotz seiner Zerbrechlichkeit - beflügelten uns und übertrug sich auf uns alle!

Zu meinem 50. Geburtstag schickte er mir Blumen. Später folgte eine Einladung mit dem Konzert in A-Dur KV 488 von Mozart nach Reggio Emilia. In diesem Städtchen hatten sich bei Konzerten in den siebziger Jahren Claudio Abbado, der sich politisch immer wieder stark engagierte, gemeinsam mit Maurizio Pollini und Luigi Nono speziell für Arbeiter und Studenten eingesetzt.

Im 2. Satz des Mozart Konzertes bat er mich, die sehr langen Noten zu verzieren. Zum Glück war ich nicht unvorbereitet. Kurz zuvor hatte mich Alfred Brendel schon darauf hingewiesen ... Nach dem Konzert waren wir in einem typischen, italienischen Lokal. Claudio Abbado achtete wegen seines empfindlichen Magens sehr darauf, nur ganz kleine Portionen zu essen. Ein Gläschen Rotwein stand  immer dabei, obwohl er eigentlich daran nur nippte.

Übrigens konnte er auch sehr lustig sein. Über den Namen "Schwiegermutterzungen" eines Schweizer Gebäcks musste er einmal bei einem Besuch in unserem Haus in der Schweiz wahnsinnig lachen! 

Als ich ihn 2011 wieder in Luzern hörte, glaubte ich, seine Zerbrechlichkeit spüren zu können, obwohl er wie immer mit großer Energie und Magie dirigierte.

Für diese wundervolle Zusammenarbeit bin ich unglaublich dankbar!

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